Als Mitte 2023 der Hype um ChatGPT und künstliche Intelligenz Fahrt aufnahm, waren viele Steuerberater:innen skeptisch. Thomas Thissen nicht. Der Steuerberater und Mitbegründer eines inzwischen verkauften KI-Start-ups war früh überzeugt: „Ich hatte keine Angst, ich fühlte mich herausgefordert.“ Sein Weg zeigt, was heute schon möglich ist – und welche Rolle Steuerberater:innen künftig spielen können, wenn Automatisierung und KI in der Steuerkanzlei die Routinearbeit übernehmen.

 

Alles begann mit ChatGPT – und der Frage: Wie gefährdet ist unser Geschäftsmodell?

„Ich habe 100 Stunden damit verbracht, Tools zu testen“, sagt Thissen. Ausschlaggebend war für ihn nicht der Medienhype, sondern die Frage, ob sich durch KI wirklich etwas an der Substanz der Steuerberatung verändert. Früh nutzte er generative KI zur Erstellung von Textbausteinen und individuellen Anschreiben – sogar mit Fantasy-Bezug für besonders kreative Mandant:innen. Die Reaktionen waren eindeutig: „Der hat sich so gefreut, am nächsten Tag waren die Unterlagen da.“

Der Erfolg solcher Tests führte zur Einladung als Speaker auf Branchenevents – und letztlich zur Gründung eines Start-ups: Taxwize.

Die Idee: Wissen endlich wiederverwendbar machen

Thissen hatte schon seit seiner Ausbildungszeit beobachtet, wie viel ineffiziente Doppelarbeit in Kanzleien entsteht: „Unterschiedliche Mitarbeiter arbeiten dasselbe Thema mehrfach aus – das kostet Zeit und Wissen geht verloren.“ Der Kern seiner Vision: Inhalte nur einmal aufbereiten, gezielt zuordnen und bei Bedarf automatisch aktualisieren. So entstand Taxwize, ein Tool, das Beratungstexte, Gesetzesgrundlagen und Mandanteninformationen intelligent miteinander verknüpfte.

Das System benachrichtigte Sachbearbeitende automatisch, wenn sich zu einem Thema Änderungen ergaben, und schlug sofort passende Vorlagen für die Kommunikation mit Mandant:innen vor – inklusive Freigabeworkflow. „Wir haben Wissen endlich teamfähig gemacht“, so Thissen.

Vom Prototyp zur Pause

Obwohl das Tool in der Praxis erfolgreich lief – unter anderem bei einer mittelgroßen Kanzlei mit knapp 50 Usern – scheiterte die weitere Skalierung. Der Grund: Viele Kanzleien hatten parallel zu viele andere Projekte, vom Jahresendgeschäft bis zur E-Rechnung. „Die Chefs waren oft müde, ein weiteres Tool einzuführen.“ Am Ende fehlten Investor:innen, um das Produkt weiterzuführen – Taxwize wurde verkauft.

Proaktive Beratung mit System

Thissen arbeitet inzwischen mit Automatisierungstools wie n8n und nutzt Perplexity sowie GPTs, um eigene Beratungshilfen zu bauen. Besonders spannend findet er die Möglichkeit, KI-gestützt täglich neue Urteile oder Gesetzesänderungen auf Relevanz für Mandant:innen zu prüfen: „So können wir proaktiv auf Mandanten zugehen – noch bevor diese selbst den Handlungsbedarf erkennen.“

Künftig, glaubt Thissen, könnten Beratungen sogar automatisiert angestoßen werden – sobald sich etwa eine Gesetzeslage ändert. „Das geht heute technisch schon, wenn alle Mandantendaten zentral verfügbar und gut gepflegt sind.“ Erste Experimente laufen in seiner Kanzlei bereits.

Die Steuerkanzlei der Zukunft: Daten statt Stundensätze

Ein Gedanke, den Thissen bewusst provozierend formuliert: „Vielleicht bieten wir Buchhaltung bald kostenlos an – um Zugriff auf die Daten zu bekommen.“ Denn: Nur wer die Daten hat, kann beraten. Und Beratung – vor allem proaktive – bleibt aus seiner Sicht der wichtigste Mehrwert, den Kanzleien künftig bieten.

Auch klassische Beratungsthemen verändern sich: Neben Steuerthemen werden immer häufiger Fragen zur technischen Umsetzung in Unternehmen relevant. „Wer KI-gestützte Prozesse beim Mandanten mitgestalten will, muss selbst damit umgehen können“, sagt Thissen.

Die menschliche Stimme bleibt entscheidend

Trotz aller Technik sieht Thissen auch eine Gegenbewegung.

„Viele Menschen wünschen sich wieder jemanden, der ihnen persönlich sagt: Das stimmt so.“

Der Steuerberater/Die Steuerberaterin als Vertrauensperson wird nicht überflüssig – im Gegenteil. Gerade weil künstliche Intelligenz viele Inhalte erzeugt, steigt der Wert verlässlicher menschlicher Einordnung.

Deshalb wird laut Thissen in den kommenden Jahren eine neue Rolle wichtiger: die des Datenanalysten in der Kanzlei. Wer Mandantendaten strukturiert erfasst und intelligent nutzt, kann nicht nur rechtzeitig beraten, sondern auch neue Geschäftsfelder erschließen – etwa in der betriebswirtschaftlichen Begleitung.

KI in der Steuerkanzlei – in kleinen Schritten

„Wir müssen nicht alles sofort umkrempeln“, sagt Thissen. „Aber wir müssen anfangen.“ Ob durch kleine Automatisierungen im Onboarding, gezielte KI-Recherchen oder strukturierte Ablage: Die Richtung ist klar – hin zu mehr Effizienz, mehr Überblick und mehr Beratung.

Seine Erfahrung zeigt: Wer offen bleibt und neue Technologien mit gesundem Pragmatismus prüft, kann auch in Zeiten des Umbruchs nicht nur mithalten – sondern gestalten.

 

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Ulf Hausmann ist Kanzleiberater und systemischer Organisationsberater und Coach. Er war zehn Jahre Marketingleiter von Ecovis und begleitet Kanzleien in Strategie, Führung und Organisationsentwicklung. Er ist Autor und Seminarleiter für unternehmerische Themen in Steuerkanzleien, Mitglied im KI-Ausschuss der Steuerberaterkammer Niedersachsen und Mitbegründer der Tax KI Community.